Das Wort zur Wochenmitte

Foto: Claudia Bitter

Liebe Leserin,
lieber Leser,

Verschieberitis – oder „Nie wieder ist jetzt“ – oder das Zeitfenster ist offen

Meine Mutter war regelmäßig genervt davon: 

„Kannst du mal den Müll rausbringen?“
„Ja, sofort.“
„Was heißt sofort?“
„Ja, gleich.“
„Nicht gleich, sondern jetzt sollst du den Müll rausbringen.“
„Ja, sofort.“

So oder ähnlich konnten sich die Verhandlungen zwischen uns über die unangenehmen Unterbrechungen durch Hausarbeit anhören. Das kennt man. Einerseits war es gar nicht einzusehen, warum der Müll ausgerechnet dann herausgebracht werden musste, wenn es meiner Mutter in den Sinn kam, und ich gerade mit etwas anderem beschäftigt war, andererseits konnte meine Mutter wohl zurecht auf die vielen Male verweisen, an denen die Arbeit später dann vergessen war. 

Jetzt im weisen Erwachsenenalter ist man darüber natürlich schon längst hinweg und erledigt immer alles sofort, gleich sofort, oder jetzt sofort – je nach dem. Oder man hat Verschieberitis – das kann ich immer noch gut. Prokrastinieren – heißt das in der Wissenschaft und wenn ich Ihnen jetzt von der Radiosendung erzähle, bei der es darum ging, wie man damit umgehen kann, dass man manches vor sich herschiebt, obwohl es viel weniger schlimm ist, wenn man es gleich erledigt, dann mache ich genau das, was ich hier beschreibe: Ich komme nicht zum Punkt – diesmal zum Punkt vom Wort zur Wochenmitte.

Ob es darum wohl auch bei folgendem Spruch aus dem Hebräerbrief geht: Heute, wenn ihr meine Stimme hört, verstockt euer Herz nicht. (Hebr. 3,15)

Heute verstockt euer Herz nicht – das ist eine Zeitansage, bei der ein „gleich sofort“ nicht angesagt ist. Jetzt, nicht sofort oder gleich, sondern jetzt soll es passieren. Das Zeitfenster ist offen. 

Etwas spricht mich an, als käme es direkt von Gott. Ein Auftrag, ein Impuls zum Nachdenken über Veränderungen, eine Zeitansage, die in Bewegung bringt. Ob ich da immer noch Ausflüchte haben und am liebsten alles verschiebe? Wenn klar ist: Jetzt oder nie? Heute verstockt euer Herz nicht. 

Nie wieder ist jetzt. Diese Zeitansage nehmen gerade viele von uns wahr: Immer neu gibt es Nachrichten von „Demokratie-Events“ – so könnte man die Kundgebungen für Meinungsfreiheit und Diversität doch nennen, oder? Nie wieder meint das Unrechtsregime im 3. Reich mit Hass, Diskriminierung, Verfolgung und Mord, einem alles verheerenden Krieg. Nie wieder. Das müssen wir JETZT deutlich machen, bevor von rechts Fakten gesetzt werden. 

Nie wieder ist jetzt – die Demokratie und die Grundrechte verteidigen – nicht nur für uns selbst, erst recht für andere, damit wir in Freiheit leben und unsere Meinung öffentlich sagen können, glauben können, wie es unserm Glauben entspricht. Wir setzen uns ein für Freiheit, damit alle ihre Freiheit leben können. Das Zeitfenster dafür ist offen. 

Nie wieder ist jetzt – Bei dem kurzen Satz im Hebräerbrief geht es um die Chancen, die aus dem Glauben kommen. Hoffnung haben, als Gemeinschaft leben, die Nächstenliebe im Alltag leben. Auch da braucht es Aufbrüche, damit Chancen nicht ungenutzt verstreichen. Hinhören, es mir zu Herzen nehmen und den Moment wahrnehmen für den Neuanfang. Und nicht verschieben und sagen: „Ja sofort, ja gleich“ – und es dann auf irgendwann verschieben, um es gar nicht zu machen. 

Nie wieder ist jetzt. Heute hört hin, entdeckt: Das meint mich als Christ oder Christin, als Bürger oder Bürgerin. Und fangt neu an. Die Freiheit und die Grundrechte zu verteidigen. Und zu glauben, zu lieben, zu hoffen. Das Zeitfenster ist offen. 

Ihre Pfarrerin Claudia Bitter