Liebe Leserin, lieber Leser,
Es ist Punkt halb zehn. Die Türen zur Kapelle der Justizvollzugsanstalt in Ergste öffnen sich.
Etwa 30 Männer unterschiedlichen Alters betreten im Pulk die kleine Kirche mitten auf dem Gefängnisgelände – begleitet von einer Justizvollzugsbeamtin und einem Justizvollzugsbeamten. Ich stehe an der Tür und begrüße jeden per Handschlag. Jeder Handschlag ist wie eine Begegnung mit einer Schraubzwinge. Die Männer begrüßen sich untereinander, klatschen sich ab. Es geht los. Ein kleiner Männerchor unter der Leitung des jungen Kirchenmusikers Philipp Wagner setzt ein. Mit einem klassischen Dirigat versucht er sie zu unterstützen.
Ich begrüße die Anwesenden und lade sie ein, nach vorne zu kommen. Sie dürfen eine Kerze für ihre Lieben entzünden, mit denen sie nicht zusammensein können. Ausnahmslos alle kommen nach vorne. Viele von ihnen beten. Einige von ihnen bekreuzigen sich. Ein ganz besonderer Moment. Für mich ein Moment der Gegenwart Gottes. Wir setzen den Gottesdienst fort. Irgendwann ertönt das „Ehre sei Gott in der Höhe“, noch etwas schief, aber auch voller Begeisterung. Ein Lobgesang, der zum Himmel steigt. Berührt schaue ich mir die Gesichter an. Ich habe lange nicht solch einen bewegenden Moment erlebt.
Der Gottesdienst geht zu Ende. Ich sage: der Segen am Ende eines Gottesdienstes ist mehr als nur der Hinweis, dass der Gottesdienst vorbei ist. Der Segen ist die Zusage Gottes, dass er uns auch unter der Woche begleitet und uns mit seiner Gegenwart beschenkt. Die Männer verabschieden sich, die Justizvollzugssbeamten auch.
Ich stehe noch eine ganze Weile in der Kapelle. Ich habe heute viel gelernt. Auch das hier ist Kirche. Auch hier leben Menschen, die sich von Gott Trost und Kraft erhoffen. Auch das hier ist ein heiliger Ort. Mir kommt ein Lied in den Sinn.
Du bist da, wo Menschen lieben. Du bist da, wo Leben ist. Du bist da, wo Menschen lieben. Du bist da, wo Liebe ist. Du bist da, wo Menschen hoffen. Du bist da, wo Hoffnung ist. Und ich ergänze still für mich. Du bist da, wo Menschen leiden. Du bist da, wo Leiden ist. Du bist da, wo Menschen streiten. Du bist da, wo Streiten ist. Du bist da, wo Menschen sterben. Du bist da, wo Sterben ist.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr Hartmut Görler