
Liebe Leserin,
lieber Leser,
bei einem Strandspaziergang stoße ich auf ein kleines, völlig verknotetes Bündel von Kunststofffäden. Ich ärgere mich. Dieses Strandgut deute ich als Kulturmüll. Irgendein Fischerboot hat die Reste eines ehemaligen Netzes verloren oder bewusst über Bord gehen lassen. Hellbraune und blaue Fäden verknotet mit einer Kordel. Ich weiß, dass gerade die Plastikfäden nicht verwesen und als Industriemüll über Hunderte von Jahren auf der Erde bleiben. Ich will schon kopfschüttelnd daran vorbeigehen, da hole ich meine Kamera aus meiner Tasche. Ich lege mich bauchlings in den Sand und fotografiere dieses seltsame Stück. Der Haufen, der eben noch ärgerlicher Müll war, wird in diesem Augenblick zu einem Kunstwerk vor der Fotolinse. Ich richte mich auf, setze mich in den Sand und denke nach. Was ich gerade getan habe, wird für mich zu einem Sinnbild für Gott. Auch in meinem Leben gibt es viele Knoten, viele Irrungen und Wirrungen. Ereignisse, die ich selber als unnützen Müll bewerte. Ärgernisse, die mich begleiten. Aber ich traue Gott zu, dass er sich hinkniet und mein persönliches Strandgut ganz anders bewertet als ich. Wer weiß, vielleicht ist gerade mein Lebensmüll für ihn ein Kunstwerk vor seiner Linse.
Mir kommt ein Bibelwort in den Sinn: „Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“. Ich staune über dieses „siehe“! Ganz offensichtlich soll ich ganz genau hinschauen – so wie ich es als Hobbyfotograf getan habe. Ich soll die Dinge, die ich sehe, mit Gottes Augen betrachten. Mit Augen der Liebe. Mit einem wertschätzenden Blick. Mit Augen, die Gottes Schaffenskraft zulassen. Mein eigenes Leben mit anderen Augen betrachten, vor allem meine Schwächen und Niederlagen. Mich selber in Gottes Licht sehen. Das ist eine große, aber heilsame Aufgabe.
Ich weiß, das Bild hinkt. Dieses Bündel von Plastikfäden ist auch nach meiner kleiner Fotoaktion noch Müll, der die Umwelt belastet. Aber ich will nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass Gott aus meinem persönlichen Müll Neues entstehen lassen kann.
Ihr Hartmut Görler