Waren Sie mal in der Stadtkirche in Unna? Sie steht nicht nur mitten in der Stadt. Sie ist auch das Wahrzeichen der Stadt Unna und von weit her aus allen Richtungen sichtbar. Zurzeit kann die Evangelische Kirchengemeinde Unna allerdings ihre Stadtkirche nicht wirklich nutzen: sie ist eine große Baustelle. Da ist zum einen ein Sturmschaden im Gewölbe: der Sturm Friederike hat im Janaur 2018 ein gotisches Türmchen abgerissen, das das Kirchdach durchschlagen und die darunter liegende Kuppel instabil gemacht hat. Da ist zum anderen die Fassade, an der der Zahn der Zeit nagt – wie auch an der St. Viktor Kirche. Weder Kirchraum noch der Platz vor der Kirche sind letztendlich nutzbar. Ein großes Gerüst ist Hinweis auf die laufenden Sanierungsarbeiten. Und doch hatten die Mitglieder unseres Presbyteriums in diesen Tagen die Möglichkeit, die kalte Kirche für eine Abendandacht zu besuchen.
An der Innenwand der Kirche bin ich auf ein seltsames Kreuz gestoßen: ein Kreuz aus Gesichtern. Lange stand ich davor. Ich habe mir die Gesichter näher angeschaut. Jedes Gesicht hat eine andere Stimmung ausgedrückt. Da waren traurige Gesichter und nachdenkliche Gesichter. Da waren verärgerte Gesichter und fröhliche Gesichter. Da waren weinende und lachende Gesichter. Egal wie es mir gegangen wäre, immer hätte ich meine Stimmung in einem der vielen Gesichter wiedergefunden. Ich habe keine Beschreibung des Wandbildes gefunden. Von daher muss ich mir meine eigenen Gedanken machen.
Ein Kreuz aus Gesichtern. Ein Kreuz für die vielen unterschiedlichen Gesichter. Ein Kreuz für die fröhlichen Menschen und für die enttäuschten Gesichter. Ein Kreuz für starke und entkräftete Gesichter. Ein Kreuz für dich und mich. Und ich und du, wir bilden mit unseren Gesichtern das Kreuz Jesu. Ich erinnere mich an den Satz, den Jesus geprägt hat:
Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.
Mt 11,28
Der Gottessohn lädt alle Menschen zu sich ein, egal welche Stimmung sich in ihrem Gesicht widerspiegelt, egal welche Erfahrungen das Gesicht prägen. Wir brauchen kein schönes Gesicht machen. Wir dürfen zu unserem faltigen Gesicht stehen, zu einem Gesicht, das das Leben gezeichnet hat. Wir sind willkommen bei Christus. Selbst mit unserem verkrampften Gesicht sind wir ein Teil von ihm.
Eine Wandskulptur in einer arg gebeutelten Kirche. Sinnbild für unsere Kirche im Jahr 2021? Nicht nur unsere St. Viktor hat Risse und Abbrüche. Auch an unserer Kirche als Institution nagt der Zahn der Zeit. Neulich wunderte sich der Enkel einer Verstorbenen, dass ich nach dem Trauerbesuch zu einem Kircheneintritt gefahren bin. Wie altmodisch, sagte er. Ja, unsere Kirche ist eine große Baustelle, auch unsere Kirchengemeinde in Schwerte. Aber mittendrin das Kreuz der Gesichter.
Eine Einladung Gottes an die Menschen mit ihren unterschiedlichen Gesichtern.
Ihr und Euer Hartmut Görler