Das Wort zur Wochenmitte

Neulich auf einer Radtour. Auf dem Seseke Weg zwischen Lünen und Kamen stehen wir plötzlich vor einer etwa sieben Meter breiten und drei Meter hohen Mauer, einer Skulptur des Berliner Künstlers Christian Hasucha. Wie die modernen Mauern in manchen Vorgärten liegen Bruchsteine in einem Maschengitter. Das Besondere aber ist, dass sich in den Steinen die Buchstaben J-E-T-Z-T herausbilden. Jetzt. Nicht gestern. Nicht morgen oder übermorgen. Jetzt. Das Kunstwerk betont das Heute. Den Augenblick. Es wertschätzt den Moment, der gerade erlebt wird. Manche trauern der Vergangenheit nach: ja, damals, damals war alles besser. Andere verbinden ihre Wünsche und Sehnsüchte mit der nahen oder fernen Zukunft: Wenn ich erst mal groß bin, dann….Wenn endlich Corona vorbei ist, dann….Wenn ich erst mal Rentner bin, dann…. Aber liegt das Glück wirklich im Gestern oder im Morgen? Mich hat diese beeindruckende Mauer nachdenklich gestimmt, mir die Augen für das Hier und Jetzt geöffnet: was für ein Geschenk, ich darf bei wunderschönem Herbstwetter jetzt in diesem Moment vor diesem Kunstwerk stehen.

Jesus hat auch einen Blick für das Heute. Im Lukasevangelium wird erzählt, wie der junge Jesus in einem Gottesdienst aufgefordert wird, aus der jüdischen Bibel zu lesen und die Worte auszulegen. Aus dem Buch des Propheten Jesaja liest er: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn. Nach der Lesung legt er das Buch zur Seite und hält seine wohl kürzeste Predigt überhaupt. Er sagt: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt. Da ist es wieder, dieses Jetzt und Heute. Heute ist ein besonderer Tag. Der heutige Tag ist Gottes Tag. Das Jetzt ist ein heiliger Moment. Das Jetzt wird von Gott getragen, berührt, gesegnet.

Schauen Sie sich doch mal das Foto an! Oder schauen Sie sich die Steinskulptur in der Nähe von Kamen direkt an! Welches Glück entdecken Sie trotz der Steine in Ihrem Leben im Hier und Jetzt? Was macht den aktuellen Moment kostbar? Was macht den heutigen Tag zu einem ganz besonderen Tag? Wir müssen oft stehenbleiben und uns das J-E-T-Z-T in Ruhe anschauen. Aber dann wird der Reichtum des Augenblicks doch sichtbar.

Ach, übrigens. Der gerade aktuelle Moment ist schnell wieder vorbei. Auch das drückt das Kunstwerk aus: durch die Buchstaben J-E-T-Z-T hindurch sehe ich die Seseke, wie sie dahinfließt. Weg ist der Augenblick. Verflossen. Und doch ist der nächste Augenblick schon da. Ein neues Jetzt. Ein neuer Moment Gottes.

Ihr Hartmut Görler