Das Wort zum Tag

Thema Gerechtigkeit

Die Covid-19-Pandemie bringt wieder ein Urthema der Menschheit auf den Plan: Das Thema Gerechtigkeit. Was ist schon gerecht? Ich komme immer wieder zu dem Punkt, dass es umfassende Gerechtigkeit wohl nicht gibt, dass es immer Menschen geben wird, die sich ungerecht behandelt fühlen, und andere Menschen, die nicht wissen, wie sie es allen recht machen sollen. Ist doch so, oder?

Im Augenblick wird das für mich an dem Thema: Vorteile für Geimpfte deutlich. 

Vielleicht wenden Sie jetzt ein: Um Vorteile für Geimpfte geht es ja eigentlich gar nicht. Geimpfte sollen nicht bevorzugt werden, sondern sollen als erste die Möglichkeit bekommen zu den ganz normalen Freiheitsrechten zurückzukehren. 

Aber stimmt das?

Haben nicht alle anderen zugunsten von bestimmten Priorisierungsgruppen darauf verzichtet, als Erste geimpft zu werden, weil sie solidarisch waren? 

Eine schwierige Diskussion ist das, finde ich. Und eigentlich ist es ja christlich, dem anderen das Gute zuerst zu gönnen. Aber was ist, wenn dann immer zuerst die anderen dran sind und man selbst immer weiter nach hinten durchgereicht wird? Muss man nicht doch auch mal die Ellenbogen ausfahren und sich durchsetzen? Ist der / die Solidarische am Ende der/ die Dumme?

Eins ist klar: Dass zuerst die Jahrgangsgruppen zu impfen waren, die besonders gefährdet sind, leuchtet ein. Dass das nicht so einfach durchzuhalten ist, wenn plötzlich einzelne Impfstoffe nur eingeschränkt zur Impfung zur Verfügung stehen, das leuchtet auch ein. Dass Menschen im Altenheim, die alle geimpft sind, jetzt langsam wieder Kontakt nach draußen bekommen sollen – auch das leuchtet ein. Dass einzelne Berufsgruppe vorgezogen werden, damit sie für alle da sein können, auch das leuchtet ein (Ich gebe zu, ich gehöre selbst zu einer und bin bei persönlichen Seelsorgesituationen dafür immer wieder dankbar, hätte aber auch anderen diesen frühen Schutz gegönnt!).  All das leuchtet ein. Mir jedenfalls. 

Schwer ist nur, das am Ende einige verzichten müssen und die letzten sein müssen. 

Ob Jesus auch das gemeint hat, als er sagte: 

Die letzten werden die ersten sein und die ersten die letzten.

Matthäus 20, 16

Sein Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erzählt das sehr anschaulich (nach Matthäus 20,1-16):

„Ein Weinbergbesitzer steht vor der Weinlese und braucht viele Arbeitskräfte (bei uns kennen wir das bei der Spargel- und Erdbeer-Ernte!). Er geht auf den Markt und stellt Arbeiter an – morgens, mittags, nachmittags und kurz vor Schluss noch einmal. Mit allen verabredet er den gerechten Lohn zu bezahlen. Und alle bekommen gleich viel Geld – einen Tageslohn. Soviel braucht eine Familie, um durchzukommen. Die am längsten gearbeitet haben, sind sauer. Sie finden das nicht gerecht – so viel Arbeit und am haben sie nicht mehr als die, die nur für eine Stunde angestellt wurden. 

Dass die, die zuletzt dran waren, mit ihren großen Existenzsorgen auf dem Marktplatz gesessen und gewartet haben – das nehmen die ersten Arbeiter gar nicht wahr. Sie sehen nur das Geld. Und hätten vielleicht gern ein bisschen mehr Freiheit mit ein bisschen mehr Lohn. 

Jesus sagt: So ist das – Gottes Gerechtigkeit ist anders als eure. Da bekommen alle das, was sie zum Leben brauchen, nicht mehr und nicht weniger. Das ist solidarisch.“

Und an anderer Stelle sagt Jesus: 

„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Matthäus 5, 44.45

So ist das mit Gottes Gerechtigkeit. Sie ist solidarisch. Und wir müssen es aushalten, können es nicht immer nachvollziehen, fragen uns, womit der eine ein schweres Schicksal verdient hat, fragen uns selten, wie die andere es geschaffte es, so viel Gutes zu tun, dass sie so sorglos leben darf. Das nehmen wir als selbstverständlich an. Aber auch das ist ja nicht gerecht, sondern einfach Gnade.

Wir werden wieder mit der Ungerechtigkeit und der Gnade umgehen müssen und dürfen,

denkt 

Ihre Pfarrerin Claudia Bitter