Liebe Leserin,
lieber Leser!
Da liegen viele kleine Kreuze auf meinem Tisch. Wir brauchen sie am Osterwochenende. Bereits am Mittwoch vor Ostern bauen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Familiengottesdienstes sechs Stationen vor dem Johanneshaus auf. Sie erinnern an die verschiedenen Stationen, die Jesus abgehen musste auf dem Weg zum Kreuz und auf dem Weg in neues Leben. Gethsemane. Jesus vor Gericht. Jesus stirbt am Kreuz. Jesu Grablegung. Auferstehung Jesu. Jesus begegnet seinen Freunden auf dem nach Emmaus. Von Gründonnerstag an bis Ostermontag kann der Weg ins Leben besucht und beschritten werden.
Da liegen viele kleine Holzkreuze auf meinem Tisch. Ich schaue sie mir nachdenklich an. Ich frage mich: an welchen Stationen gehen die Menschen um mich herum vorbei? An welchen Stationen bleiben sie stehen? Welche Stationen nehmen sie dermaßen in Anspruch, dass sie dort verharren, nicht weiterkommen, stehen bleiben, blockieren? Ich höre von einem leidigen Nachbarschaftsstreit. Mir kommt die Frau in den Sinn, deren Impfung abgesagt wurde. Ich lese von einer Konfirmandin, von Epilepsie durchgeschüttelt. Ich lese von einem Fußballspieler, dessen facebook-Account gelöscht werden muss, weil er wegen rassistischer Beschimpfungen überläuft. Ich besuche eine Frau im Hospiz. Ich lese eine Whatsappnachricht einer Mutter, die ihre Tochter nicht versteht. Ich denke an eine Freundin, die um ihren Mann trauert, mit 56 Jahren an Corona verstorben. Ich höre von einem Mann, der sich wider Willen auf die digitale Welt einlassen muss. Ich denke an eine Mutter, die sich große Sorgen macht um ihren 5jährigen Sohn.
Da liegen viele kleine und große Kreuze in unserem Leben. Und Sie? Sie könnten von Ihren eigenen kleinen und großen Kreuzen erzählen. Meine Oma, schon viele Jahre tot, hat einst gesagt: „Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen“. Selbstverständliche Worte und zugleich weise Worte; denn sie hat recht. Es gibt kein perfektes Leben. Es gibt kein Leben ohne Leid, ohne Einschränkungen, ohne Traurigkeiten. Jeder trägt sein eigenes Kreuz.
Da liegen viele kleine Kreuze auf meinem Tisch. Sie erzählen stumm von dem einen Kreuz. Auf Golgatha. Das eine Kreuz zwischen zwei anderen Kreuzen. Aber nur von dem einen Kreuz geht bis zum heutigen Tag Trost und Kraft aus. Das eine Kreuz ist das Kreuz Jesu. Wenn wir auf sein Kreuz blicken, sehen wir dessen Botschaft: Christus nimmt unsere Kreuze mit an sein Kreuz. Christus trägt unsere kleinen und großen Kreuze auf unserem Stationsweg des Lebens.
Fürwahr: er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.
Den Nachbarschaftsstreit trägt er und die Enttäuschungen. Unsere Krankheit trägt er mit und die Erfahrungen, ausgegrenzt zu werden. Das Sterben, den Tod und die Trauer trägt er mit und das Gefühl der Überforderung. Auch davon erzählt der Stationsweg vor dem Johanneshaus. Vor dem Weidenstock mit dem Bild vom Kreuzestod Jesu steht eine Kiste mit Deckel. In der Kiste liegen die erwähnten Holzkreuze. Die Kinder dürfen je eins mit nach Hause nehmen und sie bunt anmalen. Als Zeichen der Hoffnung.
Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist´s eine Gotteskraft.
Ihr und Euer Hartmut Görler